LAV Magazin 2020

A ls am 13. März dieses Jahres der erste Corona-Infizierte in Urugu- ay auftauchte, da waren die Behör- den gewappnet: Die knapp drei Monate, in denen sichderVirus vonAsiennachEuropa und schließlich nach Amerika ausbreitete, waren sie nicht untätig geblieben. In der Universidad de la República in Montevideo hatte man schon im Januar begonnen, ge- meinsam mit dem lokalen Pasteur-Institut eine eigene Diagnostik zu entwickeln. Per- sönlicheVerbindungen zu chinesischenFor- schern und nach Europa machten das mög- lich. Als der Virus kam, war Uruguay bereit. Für das Land, halb so großwieDeutschland, aber mit einer Bevölkerungsanzahl von Ber- lin, war das die Rettung: Denn Uruguay hat offene Grenzen zu allen Nachbarländern – die kaum kontrolliert werden können. Die Regierung vonPräsident LuisAlberto Lacal- le Pou war gerade einmal zwei Wochen im Amt, als der erste Corona-Infizierte regist- riert wurde. Zudem hat Uruguay die älteste Bevölkerung auf demKontinent. Die Regierung reagierte schnell: Sie hielt die Menschen an, zuhause zu bleiben. Sie begann sofort mit Massentests, so dass Uru- guay heute die mit Abstand höchste Erfas- sung pro 1000 Einwohner in Lateinamerika hat. Sie schloss alle Informationskanäle der Behörden zusammen und stellte eine App vor, über welche die Uruguayer sich infor- mieren und mit den Behörden in Kontakt treten können. Davon ist inzwischen die vierte Version auf dem Markt, bei der auch Google und Apple mitgearbeitet haben. Knapp eine halbe Millionen Menschen haben sie heruntergeladen. Mit seinem weltweit vorbildhaften Kri- senmanagement weist Uruguay heute in Lateinamerika die niedrigsten Raten von Infizierten und Toten aus, obwohl die Nach- barländer Argentinien und Brasilien schwer von der Pandemie betroffen sind. Die Uru- guayer sind die ersten Lateinamerikaner, die ohne Einschränkungen in die EU einreisen konnten. Doch leider ist Uruguay die einzige Er- folgsgeschichte in Lateinamerika geblie- ben. Wie in Europa oder den USA reagier- ten die Regierungen völlig unterschiedlich: Entweder planlos, verharmlosend oder strikt mit harten monatelangen Lock- downs. Die Folge: Auch Ende August nehmen die Ansteckungsraten insgesamt noch nicht ab. Im Gegenteil, die Infizierungen steigen oder explodieren gar immer wieder in ein- zelnen Regionen und Ländern. Von Ent- warnung kann also keine Rede sein. Die Pandemie verläuft dramatisch: Ende August war Südamerika für fast die Hälfte der weltweit offiziell registrierten Corona- Opfer verantwortlich. Brasilien steht mit seinen Opferzahlen international auf Platz zwei. Unter den zehn Staaten mit den welt- weit höchsten Opferzahlen pro Million Einwohner befinden sich sieben in Latein- amerika. Das gilt auch für Länder wie Ar- gentinien oder Peru, die strenge Isolations- politiken betrieben. Gleichzeitig können die Regierungen im- mer weniger soziale Distanzierungsmaß- nahmen durchsetzen. Das liegt einerseits daran, dass die vielenArmen in der Region gezwungen sind, auf die Straße zu gehen, um etwas zu verdienen. Nur die Mittel- schicht und staatliche Angestellte können sich imHomeoffice schützen. Andererseits ist auch die Mittelschicht der Isolation überdrüssig und verlangt eine Öffnung der Wirtschaft. Das führt zu gan- zen oder teilweisen Öffnungen im Handel und bei den Dienstleistungen, die dann wieder zurückgenommen werden müssen, weil die Zahl der Infizierten hochschnellt, wie etwa in Argentinien, Chile, Kolumbien oder Brasilien. Auch die Folgen für die Wirtschaft sind noch nicht ganz klar. Positiv auf die Kon- junktur wirken die massiven staatlichen Kompensationsmaßnahmen wie in Chile oder Brasilien. Auch Chinas sowie mög- licherweise Europas schnellere Erholung könnte über ein weiteres Exportwachstum an Rohstoffen aus Agro und Bergbau für einen Wachstumsschub in Südamerika sorgen. Das gilt auch für Mexiko, das von einer – derzeit aber noch nicht erkennba- ren – Erholung der US-Wirtschaft profitie- ren wird. Auch an den Finanzmärkten hat sich die Stimmung gebessert: Staaten und Unter- nehmen aus Lateinamerika haben seit der Jahresmitte wieder Zugang zu internatio- nalem Kredit. Die Finanzinvestoren nut- zen die niedrigen Zinsen, um ihr Geld an die Börsen zu verlagern. In Brasilien könn- te es dieses Jahr zu einem historischen Re- kord kommen bei den Börsengängen. Die Aussichten für die Wirtschaft haben sich leicht gebessert nach ersten pessimis- tischen Prognosen noch zur Jahresmitte. 8,5 Prozent wird das Bruttoinlandsprodukt in Lateinamerika dieses Jahr schrump- fen, erwartet die Investmentbank Morgan Stanley. Für 2021 rechnet die Bank mit ei- nemWachstum von 4,7 Prozent. Das regi- onale Bruttoinlandsprodukt wird nicht vor Ende 2022 wieder an das Vor-Pandemie- Niveau heranreichen. Die Rezession wird am stärksten Peru (-15,8 Prozent), Argen- tinien (-12,7 Prozent) und Mexiko (-10,5 Prozent) treffen. In Chile (-6,8 Prozent) und Kolumbien (-8,2 Prozent) werden die Verluste geringer ausfallen. Überraschend gering dürfte die Rezession in Brasilien (-5,1 Prozent) verlaufen. Es stellt sich jetzt die Frage, wie sich der Kontinent in der Post-Corona-Phase ent- wickeln wird. Einige Prognosen für Politik und Wirtschaft auf dem Kontinent: Die sozialen Proteste werden zunehmen Politischwar die Situation in fast allen Län- dern Lateinamerikas bereits vor der Coro- nakrise angespannt. 2019 war es zu breiten regionalen Protesten gekommen. Auslöser war die Frustration wegen Wie wird Lateinamerika Post-Corona aussehen? Einige Prognosen für Politik und Wirtschaft 14 Handelsblatt

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