LAV Magazin 2020

fehlender Aufstiegsmöglichkeiten, der all- gemeinen Korruption und den schlechten öffentlichen Dienstleistungen. Interessant daran ist, dass die Proteste besonders hef- tig ausfielen in Staaten, deren Ökonomien die Jahre zuvor überdurchschnittlich gewachsen waren. Das gilt etwa für Chile, Ecuador, Bolivien und Kolumbien. Ein Indiz für die wachsende Frustration über die Politik und die Regierenden war der Aufstieg politischer Außenseiter in Mexiko und Brasilien. In allen Staaten sind die Gesellschaften nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch stark gespalten. Das Ansehen der Demokratie ist auf einen Tiefpunkt gesunken. Zeitweise haben die Appelle an das Nati- onalgefühl, das rally-round-the-flag funk- tioniert und den Protesten den Wind aus den Segeln genommen. Doch die Gründe für die politischen Krisen in der Region haben sich durch die schwere Wirtschafts- krise sogar noch verschärft. Armut und Arbeitslosigkeit werden stark zunehmen in der schwersten Rezession Lateiname- rikas in 100 Jahren. Der Widerstand und die Proteste gegen die Regierungenwerden also wahrscheinlich wieder aufflammen. Der Populismus ist nicht amEnde Unklar ist derzeit, inwieweit das Krisenma- nagement sich auf die Popularitätsratender Regierungen auswirken wird. Einerseits scheinen die teilweise sinkenden, teilweise steigenden Zustimmungsraten der Regie- rungen mit der ausbezahlten Sozialhilfe zu korrelieren. Doch das könnte nächstes Jahr zum Problem werden, wenn die Öko- nomien verzögert zu wachsen beginnen, den Regierungen jedoch das Geld fehlt, welches sie bereits dieses Jahr ausgegeben haben. Populisten ohne Budget kommen schnell in die Bredouille. Sie überleben, in- dem sie Zustimmung politisch „erkaufen“. Trotzdem werden in Lateinamerika in na- her Zukunft nicht zwingend transparente- re, demokratischere oder pragmatischere Regierungen gewählt. Lateinamerikaner wählen Personen, nicht Politiken. Am liebsten sind ihnen Politiker, die den Him- mel auf Erden versprechen. Der politische Rechtsruck in Lateinamerika wird sich fortsetzen Viele Regierungen sind in der Krise auto- ritärer geworden. Sie benutzen die Coro- nakrise, um die Gewaltenteilung einzu- schränken und den Staatseinfluss in der Wirtschaft auszuweiten. Derzeit scheint es wahrscheinlich, dass die Demokratien in Lateinamerika wieder stärker unter Druck kommen werden. Lateinamerika könnte bei der Neuordnung der globalen Lieferketten abgehängt werden In den letzten Monaten ist deutlich gewor- den, dass die weltweiten Lieferketten neu aufgestellt werden. Das hängt mit der Pan- demie zusammen, wonach Unternehmen wie Staaten künftig autonomer werden und sich nicht mehr dem Versorgungsri- siko aussetzen wollen, wenn ein Glied in der Lieferkette ausfällt. Zudem führt der verschärfte Konflikt zwischen den USA und China dazu, dass sich weltweit paral- lele Liefer- und Technologieketten bilden. Vermutlichwird Lateinamerika vergleichs- weise wenig von diesen Veränderungen profitieren. Die Economist Intelligence Unit hat dazu in einer kurzen Studie („Will Latin America take advantage of supply chain shifts?“) die Gründe aufgeführt: Die Infrastruktur in der Region ist zu rück- ständig, die Unternehmen zu wenig auf hochwertige Produktion („Industrie 4.0“) vorbereitet, die Arbeitskräfte ungenügend ausgebildet und die Rahmenbedingungen für Unternehmen wenig förderlich für neue Ansiedelungen. Der EIU stellt fest, dass Chile, Costa Rica, Kolumbien, Mexiko und Brasilien am bes- ten darauf vorbereitet seien, vom Trend zum „nearshoring“ zu profitieren. Mexiko und möglicherweise Teile Zentralamerikas werden sicher von der Einbindung in die US-Lieferketten profitieren können, in- dem sie einen Teil der asiatischen Importe in die USA ersetzen. Die europäischen Unternehmen verlieren in Lateinamerika an Bedeutung Einerseits haben sich die Aussichten für den Handel und Direktinvestitionen euro- päischer Unternehmen mit der Pandemie und der schweren Wirtschaftskrise in der Region eher verschlechtert: Das Pro-Kopf- Einkommen ist gesunken, die Währungen geschwächt, der Staat dürfte als Investor in der Infrastruktur wegen der hohen Ausga- ben während der Pandemie für Jahre aus- fallen. Zudem haben sich die Rahmenbedingun- gen für die Integration auch auf politischer Ebene verschlechtert. Es nehmen die Zwei- fel zu, dass das EU-Handelsabkommen mit dem Mercosur noch umgesetzt werden könne. Ein Grund für die Kritik in Europa ist die mangelhafte Umwelt- und Amazo- naspolitik Brasiliens. Erstaunlich sind die fehlende Resonanz und Reaktionen in Südamerika. Keine Regierung der Mercosur-Mitgliedsländer äußerte sich etwa zur Kritik der Kanzle- rin Angela Merkel Ende August. Auch in den Äußerungen der vier Präsidenten aus Uruguay, Paraguay, Brasilien und Argenti- nien taucht das Abkommen in den letzten Monaten nicht einmal mehr in Nebensät- zen auf. Argentinien überprüft gerade die Verträge, die von der Vorgängerregierung abgeschlossen wurden und hat angekün- digt, bei keinen weiteren Integrationsver- handlungen des Mercosur mitmachen zu wollen. Da auch in Europa die Reaktionen derUnterstützer des Abkommens eher pro- tokollarisch ausfielen, gibt es eigentlich nur einen Schluss: Nicht nur in Europa, auch in Südamerika ist derzeit niemand mehr wirklich von demAbkommen überzeugt. Integration in Lateinamerika in der Defensive Aber auch innerhalb Lateinamerikas rücken die Staaten auseinander: Beispiel Pazifik Allianz (Chile Peru, Kolumbien, Mexiko und bald Ecuador): Nach nun knapp einer Dekade ist die anfängliche Eu- phorie einer Ernüchterung gewichen. Der- zeit arbeitet keine Regierung innerhalb der Allianz fürmehr Integration untereinander. Fazit: Unternehmen und Investoren soll- ten sich in Zukunft in Lateinamerika auf nationale, durch Zölle geschützte Märkte einstellen, mit hoher Regulierung und der damit einhergehenden Bevorzugung und Subvention nationaler Unternehmen. Alexander Busch Salvador da Bahia, Brasilien Handelsblatt 16 Handelsblatt

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