LAV Magazin 2020

Auswirkungen für Investitionen in Bra- silien verwiesen. Auch führende brasili- anische Unternehmen und Wirtschafts- verbände (auch aus dem Agrarsektor) haben ihre Bedenken gegenüber der brasilianischen Regierung vorgetragen. Das Abkommen dient der Absicherung europäischer Wirtschaftsinteressen in Lateinamerika. Ein Scheitern des Ab- kommens hätte Nachteile für die eu- ropäische Wirtschaft, die sich gerade erst von der Corona-Krise erholt. Nach Angaben der EU Kommission würden europäische Unternehmen durch das Abkommen einen privilegierten Zu- gang zu einem Markt von 260 Millio- nen Verbrauchern erhalten. Besonde- re Vorteile ergeben sich in Europa für Industriesektoren, die bisher mit hohen Einfuhrzöllen in den Mercosur belegt waren, etwa für Autos (35%) und Au- toteile (14-18%), Maschinen (14-20%), Chemikalien (bis zu 18%), Arzneimit- tel (bis zu 14%), Kleidung und Schuhe (35%) und Textilien (26%). Aber auch der Agrar- und Lebensmittelsektor wür- de von der Senkung hoher Einfuhrzölle in den Mercosur etwa bei Wein (27%), Spirituosen (20-35%) und Schokolade (29%) profitieren. Die Mercosur-Staa- ten würden außerdem ihre öffentlichen Beschaffungsmärkte für europäische Unternehmen öffnen. Die EU Standards für Lebensmittelsicherheit, Tier– und Pflanzengesundheit werden im Hin- blick auf Einfuhren aus dem Mercosur gewahrt. Außerdem verpflichten sich beide Seiten, dass Pariser Klimaschutz- abkommen wirksam umzusetzen. Die Diskussion über die Risiken und Kosten eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und dem Mercosur wird häufig sehr vereinfachend geführt. Allerdings sind einige der kritischen Einwände gegen das Abkommen ernst zu nehmen und im Verabschiedungs- prozess in Rechnung zu stellen. Wäh- rend nach außen Kollektivgüter wie die Umwelt verteidigt werden, geht es in Wirklichkeit um die Verteidigung von wirtschaftlichen Partikularinter- essen (und Kompensationsleistungen), die nicht offengelegt werden. Dem- gegenüber werden die Chancen eines derartigen Abkommens ausgeblen- det. Zugleich wird die geopolitische und geoökonomische Großwetterlage ignoriert. Dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur kommt stra- tegische Bedeutung zu. Die EU ist nicht der einzige internationale Akteur in Südamerika. Europa konkurriert mit den USA und China. Für den Mercosur war die EU bis 2017 der wichtigste Han- delspartner, und wurde dann von China überholt. 2019 wickelten die Mercosur- Staaten bereits 25% ihres Handels (Ex- porte und Importe) mit China ab. Chi- na scheint sich wirtschaftlich schneller zu erholen als Europa und die USA. Die chinesische Nachfrage nach lateinameri- kanischen Rohstoffen, könnte die wirt- schaftliche Präsenz Chinas im Mercosur weiter erhöhen. Und auch andere asia- tische Staaten könnten ihre Wirtschafts- beziehungen mit Südamerika ausbauen. Die Trump-Administration setzt gegen- über Lateinamerika Zölle als politisches Druckmittel ein und versucht, amerika- nischen Unternehmen auf diese Weise Handelsvorteile zu verschaffen – auch auf Kosten europäischer Unternehmen. Die USA sind bestrebt, wieder ihren Einfluss in Lateinamerika auszubauen etwa dadurch, dass sie erstmals und ent- gegen des bisherigen informellen Über- einkommens einen eigenen Kandidaten für den Posten des Präsidenten der In- ter-Amerikanischen Entwicklungsbank vorschlagen, der bisher traditionell von einem Lateinamerikaner besetzt wurde. Darüber hinaus gibt es Überlegungen in der US-Administration, finanzielle Anreize zu schaffen, damit sich US- Unternehmen mit Tochterunternehmen in anderen Weltregionen stattdessen in Lateinamerika ansiedeln. Unabhängig davon, wer die Präsidentschaftswahlen gewinnt, werden die USA vor dem Hin- tergrund des verstärkten chinesischen Engagements in Lateinamerika auch in Zukunft bestrebt sein, wieder ihren Ein- fluss auszuweiten. Möglicherweise auch auf Kosten europäischer Interessen. In einer Phase zunehmender geoöko- nomischer Konkurrenz und handelspo- litischer Konflikte zwischen den USA und China muss sich Europa auf seine Stärken besinnen und seine geoökono- mischen Interessen durchsetzen. Die EU ist immer noch der zweitwichtigste Handelspartner des Mercosur, hinter China aber vor den USA. Und europä- ische Unternehmen sind die wichtigsten ausländischen Investoren in der Region. Das neu verhandelte Freihandelsabkom- men ermöglicht der EU, sich in Latein- amerika geoökonomisch und -politisch gegenüber China und den USA zu be- haupten und den offenen und regelba- sierten Welthandel zu verteidigen. Dies erfordert von den europäischen Regie- rungschefs strategisch zu denken und Partikularinteressen zurückzustellen. Das Übereinkommen mit dem Merco- sur ist das fehlende Glied in der Kette von Freihandelsabkommen der EU mit Lateinamerika, zu der auch Abkommen mit den zentralamerikanischen Staaten und drei Mitgliedern der Andengemein- schaft (Ecuador, Kolumbien und Peru) sowie bilateral mit Chile und Mexiko ge- hören. Mit dem Abkommen würde Eu- ropa ein klares Zeichen für ein stärkeres Engagement in Lateinamerika setzen. Denn parallel führt die EU Verhandlun- gen mit Mexico und Chile mit dem Ziel einer Modernisierung und Erweiterung bestehender Abkommen. Das Abkommen sollte stärker unter geoökonomischen und geopolitischen Gesichtspunkten bewertet werden. Die Wirtschaftsprognosen für Südamerika fallen düster aus, die das regionale BIP wird 2020 um mehr als 9% schrumpfen. Engere Wirtschaftsbeziehungen mit Eu- ropa könnten Südamerika auf dem Weg aus der Rezession helfen. Andernfalls besteht das Risiko, dass Europa an Ein- fluss verliert, und Südamerika in eine doppelte Abhängigkeit von China und den USA gerät. Im Spannungsfeld zwi- schen China und den USA müssen sich Europa und Südamerika positionieren. Es geht um die Verteidigung europäi- scher Wirtschaftsinteressen, aber auch um die Durchsetzung von Normen und Ordnungsprinzipien imHandel und den internationalen Beziehungen. Zumin- dest als Handelsmacht kommt Europa Gewicht zu und verfügt die EU über Gestaltungsmacht, die sie auch ausnut- zen sollte. Prof. Dr. Detlef Nolte Associate Fellow Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) 26

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