LAV Magazin 2021

D er lateinamerikanische Multilate- ralismus und die regionalen In- tegrationsprozesse be nden sich in einer Transformationsphase, die sowohl durch Veränderungen im internationalen Umfeld als auch durch eine politische Um- orientierung verschiedener Regierungen bewirkt wird. Die Covid-19-Pandemie hat die Schwächen des lateinamerikanischen Regionalismus und der multilateralen Ko- operation o engelegt. Die Aktivitäten der meistenRegionalorganisationenwaren sehr begrenzt, was die Koordinierung von Maß- nahmen zur Bewältigung der Pandemie be- tri . Obwohl sich die lateinamerikanischen Volkswirtscha en nach demdurch die Pan- demie verursachten Einbruch von 2020 erholen, werden die meisten bis Ende 2021 nicht auf das Niveau vor der Pandemie zu- rückkehren, und für 2022 wird eine erneute Verlangsamung des Wirtscha swachstums erwartet. Die Weltbank geht nach ihren jüngsten Schätzungen von einem durch- schnittlichen Wachstum von 2.9 bzw. 2.8% für 2022 und 2023 aus. Die Rezession von 2020 hat sich auf den intraregionalen Han- del ausgewirkt und die strukturellen Pro- bleme für die regionalen Integrationspro- jekte verstärkt. Lateinamerika zeichnet sichdurch einen ge- ringen Grad wirtscha licher Regionalisie- rung aus. Das intraregionale Handelsniveau ist im Vergleich zu anderen Regionen wie Europa, Nordamerika oderAsien sehr nied- rig. 2019 machte der intraregionale Handel (Exporte) weniger als 15% des Gesamthan- dels Lateinamerikas aus, mit noch nied- rigeren Werten für die meisten subregio- nalen Integrationssysteme. Als die Covid- 19-Krise Lateinamerika im Jahr 2020 traf, brach der intraregionale Handel stärker ein als der extraregionale Handel und er- reichte mit 12% des Gesamthandels einen vorläu gen Tiefpunkt; er ging imMercosur zeitweilig sogar auf 9% zurück. Die Bilanz fällt allerdings etwas besser aus, wenn man Mexiko, dessen Volkswirtscha eng mit den USA vernetzt ist, aus den Berechnun- gen herausnimmt. Dann liegt der Anteil des innerlateinamerikanischenHandels amGe- samthandel der Region bei ungefähr einem Fün el. Im Jahr 2021 haben sich die Exporte La- teinamerikas erholt, hauptsächlich durch den Anstieg der Ausfuhren nach Asien, insbesondere nach China, und durch den Anstieg der Rohsto preise. Auch der intra- regionale Handel hat zugelegt (insbesonde- re im verarbeitenden Gewerbe) und könnte 2021wieder das Niveau von 2019 erreichen. Aber auch in diesem Fall weist Lateiname- rika weiterhin eine geringe wirtscha liche Ver echtung (als Basis für die wirtscha li- che Integration) auf. Die starke Abhängig- keit von Exporten und Importen außerhalb der Region besteht fort. Obwohl der Mercosur sein 30-jähriges Bestehen feiert, kommt keine richtige Par- tystimmung auf. Uruguay versucht, das Korsett gemeinsamer Handelsverhand- lungen aufzubrechen und will stattdessen allein bilateral verhandeln. Im September kündigte die uruguayische Regierung an, in Absprache mit China eine Machbar- keitsstudie für ein Freihandelsabkommen durchzuführen. Die paraguayische Regie- rung wiederum bekundete ihr Interesse an einem Freihandelsabkommen mit Chile. Brasilien schlägt eine deutliche Senkung des gemeinsamen Außenzolls des Mercosur auf maximal 10%vor. Zurzeit liegt er bei durch- schnittlich 13% und einem Maximum von 35%. Argentinien lehnt beide Forderungen ab, würde aber eine geringere und di eren- zierte Zollsenkung akzeptieren. Zuletzt ha- ben sich Argentinien und Brasilien auf eine Senkung der Mercosur-Zölle um 10% für ein breites Spektrum von Gütern geeinigt. DemVorschlagmüssen noch Paraguay und Uruguay zustimmen. Die abweichenden Vorstellungen über die Zukun des Merco- sur bergen Kon iktpotenzial und könnten die Fliehkrä e im regionalen Integrations- bündnis verstärken. Die Unterzeichnung des Freihandelsab- kommen mit der EU, dessen Eckpunkte schon im Juni 2019 festgelegt wurden, steht noch aus. Das Abkommen könnte den Zusammenhalt im Mercosur stärken, es wäre das erste große Handelsabkommen des Mercosur. Die Verzögerung ist haupt- sächlich auf die europäische Seite zurück- zuführen. Im Mercosur hat lediglich die argentinische Regierung Vorbehalte gegen das Abkommen geäußert, aber keine Blo- ckadehaltung eingenommen. In Europa hat sich eine seltsame Koalition aus Agrarlobby, Globalisierungsgegnern, Umweltschützern und grünen Parteien gebildet, die das Ab- kommen mit dem Mercosur ablehnen. Als Begründung für die Ablehnung werden die Waldbrände und Abholzung im Amazonas sowie die desaströse Umweltpolitik der Re- gierung Bolsonaro angeführt. Hinter den berechtigten Kritikpunkten verbergen sich allerdings häu g Partikularinteressen, und zuweilen wird der Eindruck vermittelt, das Abkommen sei der Hauptgrund aller Um- weltprobleme und dieNichtunterzeichnung des Abkommens sei die silberne Gewehr- kugel, die alles Übel aus der Welt scha . Immerhin sind die Waldbrände Brasilien seit Juli im Vergleich zum Vorjahr zurück- gegangen. Ohne Abkommen ist der Ama- zonasregenwald nicht besser geschützt, aber Europa verliert einen Hebel zur Ein uss- nahme auf die brasilianischeUmweltpolitik. Aufgrund des Widerstands französischer Landwirte und großer Teile der Bevölke- rung wird es vor den französischen Prä- sidentscha swahlen im April 2022 keine Fortschritte bei der Unterzeichnung des Abkommens mit dem Mercosur geben, und es ist durchaus möglich, dass sich die Unterzeichnung bis nach den brasiliani- schen Präsidentscha swahlen und einem möglichen Amtswechsel Anfang 2023 ver- schieben wird. Die Pazi k-Allianz (AP), die in den vergan- genen Jahren große Erwartungen erweckte, hat Glanz verloren, einerseits aufgrund der innenpolitischen Probleme und Umbrüche in Kolumbien, Chile und Peru, andererseits aufgrund des geringeren Interesses und En- gagements der mexikanischen Regierung. Der mexikanische Präsident, Manuel Lopéz Obrador, nahm im April 2021 als einziger Präsident nicht amvirtuellenGipfel zum10. Jahrestag der Gründung der Pazi k-Allianz teil. Aber die Pazi k-Allianz ist immer noch aktiv. Im Juli haben die Pazi k-Allianz und Singapur Verhandlungen über ein Freihan- delsabkommen abgeschlossen, das Singa- pur zum ersten assoziierten Mitglied der Pazi k-Allianz machen und die Handels- beziehungenmit Asien verstärken wird. Zwischen 2017 und 2020 herrschte in La- teinamerika ein Führungsvakuum. Kein Land wollte eine Führungsrolle im regiona- len Integrationsprozess übernehmen. Das änderte sich 2021. Bereits imJahr 2020wur- den Anstrengungen unternommen, um die Zusammenarbeit zwischen den Regierun- genMexikos und Argentiniens zu vertiefen, die sich 2021 intensivierte. Mexiko hat 2020 und 2021 die pro tempore Präsidentscha der CELAC (Gemeinscha der lateinameri- kanischenundkaribischenStaaten) genutzt, um das gelähmte Regionalforumwiederzu- beleben. Seit Januar 2017 gab es keine Gip- feltre ender Präsidentenmehr, auchder für 2017 geplante EU-CELAC Gipfel el den innerlateinamerikanischen Kon ikten zum Opfer und wurde seitdemnicht nachgeholt. Mittlerweile tre en sich die Außenminister wieder, es gibt eine politische Agenda und imSeptember wurde nach dreijähriger Pau- se wieder ein Präsidentengipfel in Mexiko- Stadt organisiert. Die brasilianische Regie- rung beschloss jedoch bereits Anfang 2020, ihre Teilnahme an CELAC auszusetzen, unter Verweis auf die Beteiligung nichtde- mokratischer Regime wie Venezuela, Kuba und Nicaragua. Die besondere Bedeutung, die die mexikanische Regierung den Präsi- denten von Kuba und Venezuela auf dem Präsidentengipfel einräumte, wird sicher- lich nicht dazu beitragen, die Beliebtheit der wiederauferstandenen CELAC bei konser- vativen und zentristischen Regierungen in Lateinamerika zu erhöhen. Es besteht die Gefahr, dass CELAC erneut durch ideologi- sche Kon ikte gelähmt wird. Die Nichtteilnahme Brasiliens, des bevöl- kerungsreichsten Landes und der stärksten Volkswirtscha Lateinamerikas, schmälert den Anspruch der CELAC, ganz Latein- amerika zu vertreten. Aber es zeigt auch die zunehmende Isolation Brasiliens in Latein- amerika und in der internationalen Politik. Die brasilianische Regierung hat auf jeden Führungsanspruch in Südamerika verzich- tet und es kommt häu g zu Kon ikten mit Argentinien. Die Beziehungen zu den USA und der EU haben sich abgekühlt. Auch die politischen Beziehungen zu China sind kompliziert. Gleichzeitig nimmt die wirt- scha liche Abhängigkeit von China zu. Die Reden des brasilianischen Präsidenten bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen begeistern vielleicht den harten Kern seiner Anhänger, schwächen aber das Ansehen Brasiliens in der Welt. Nach außenpolitischer Zurückhaltung zu Beginn seiner Amtszeit sieht die Regierung von Manuel López Obrador in der CELAC ein Instrument, um die Präsenz Mexikos in Lateinamerika zu stärken und eine Füh- rungsrolle in der Region zu beanspruchen. Über die Gründe kann man spekulieren. Der neue außenpolitische Aktivismus dient unter anderemdazu, zumindest symbolisch eine größere Unabhängigkeit von den USA zu zeigen; wirtscha lich besteht die An- hängigkeit weiter fort. Aus mexikanischer Sicht soll CELAC die Organisation Ameri- kanischer Staaten (OAS) verdrängen, zu der auch die USA (und Kanada) gehören. Dazu hat die mexikanische Regierung zusammen mit Argentinien ihre Kritik amOAS-Gene- ralsekretär Luis Almagro verschär , der zur Bête Noire der lateinamerikanischen Lin- ken geworden ist. Angri e auf die OAS und ihren Generalse- kretär sind problematisch. Einerseits wurde Luis Almagro imMärz 2020 von den Regie- rungen Lateinamerikas und der Karibikmit großer Mehrheit (23 zu 10 Stimmen) für eine zweite Amtszeit bestätigt. Andererseits gibt es keine organisatorische Alternative zur OAS. CELAC ist keine internationale Organisation (sondern ein zwischenstaatli- ches Forum). Sie hat kein ständiges Sekre- tariat, kein eigenes Budget, keine bürokrati- sche Struktur oder spezialisierte Agenturen, wie etwa im Fall der OAS die Panamerika- nische Gesundheitsorganisation (PAHO), die während der Covid-19 Pandemie ver- schiedene Aktivitäten entwickelt hat. Der vielleicht größte Mangel von CELAC gegenüber der OAS ist das völlige Fehlen von Mechanismen zum Schutz von Demo- kratie und Menschenrechten, vergleichbar mit dem Interamerikanischen Menschen- rechtssystem, das Teil der OAS ist. In Zeiten der Bedrohung der Demokratie in vielen lateinamerikanischen Ländern ist es von großer Bedeutung, über Institutionen zu verfügen, die die Rechte der Bürger schüt- zen und von den jeweiligen Regierungen unabhängig sind. Der lateinamerikanische Regionalismus ist intergouvernemental, das heißt, es gibt kei- ne supranationalen Institutionen. Die Exis- tenz einer supranationalen Bürokratie kann regionalenAktivitäten inKrisenzeitenKon- tinuität und Nachhaltigkeit verleihen, wenn es unter den Präsidenten keinen Konsens gibt und es zu zwischenstaatlichen Kon- ikten kommt. Der lateinamerikanische Regionalismus ist darüber hinaus interprä- sidentiell. Dies hat der regionalen Integrati- on in Zeiten starker Präsidenten mit einem Führungsanspruch und politischer A nität unter den Präsidenten Au rieb gegeben. Die gleichen Merkmale des lateinameri- kanischen Regionalismus haben jedoch in Zeiten der Polarisierung und des fehlen- den politischen Konsenses zwischen den Präsidenten zu Blockaden und fehlender Kontinuität geführt. Stärker als in Europa verändern Regierungswechsel die regionale Dynamik, wie zuletzt das Beispiel von Me- xiko und Argentinien gezeigt hat. Um mehr Kontinuität in der regionalen Kooperation zu erreichen, wäre es notwen- dig, technischen gegenüber dogmatischen Fragen den Vorrang zu geben, wie etwa bei der im Rahmen von CELAC lancier- ten lateinamerikanischen und karibischen Weltraumagentur (ALCE). Zurzeit bewegt sich die Region zwischen zwei Polen: einem pragmatischen Regionalismus, der, unbe- schadet der ideologischen Ausrichtung der Regierungen, eine ergebnisorientierte Zu- sammenarbeit in bestimmten politischen und wirtscha lichen emenfeldern an- strebt; und einem deklaratorischen Regio- nalismus, der ideologisch orientiert ist und eine starke innenpolitische Komponente aufweist. Manche lateinamerikanische Fo- ren und Organisationen vereinen beides, mit o enem Ausgang, welche Art von Ko- operation die Oberhand gewinnen wird. Prof. Dr. Detlef Nolte Associate Fellow „The Americas Program“ Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik - DGAP Die Krise des lateinamerikanischen Multilateralismus und der regionalen Integration 30 31 Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik – DGAP

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